Am 3. Dezember 1965 erschießt sich der stellvertretende Ministerpräsident und Vorsitzende der Staatlichen Plankommission der DDR – Erich Apel (48) mit seiner Dienstpistole.
Apel hatte mit einer Gruppe von Wirtschaftsspezialisten das „Neue Ökonomische System der Leitung und Planung“ (NÖSPL) entwickelt und teilweise eingeführt, angelehnt an die „Neue Ökonomische Politik“ – NÖP/NEP des schon todkranken Lenin. Geplant waren: Flache Planungshierarchien. Selbständige Betriebe mit eigenen Fonds. Eine allgemeine Gewinn-Abgabenrate an den Staat (etwa 7%). Mitbestimmung der Werktätigen an der Produktions-Investition, -Planung und -Gestaltung ihrer Betriebe. Gewinnteilhabe. Die Staats-Zentrale sollte nur noch für gesamtgesellschaftliche Struktur-Bobachtung und Korrekturbewegungen zuständig sein.
Die Gruppe von Apel war, so scheint’s im Nachhinein der einzige ernstzunehmende Versuch in der DDR, eine Wirtschaftspolitik zu installieren, die die arbeitstätige Bevölkerung zu „wirklichen Eigentümern ihrer Produktionsmittel“ machen wollte. Der Versuch, Wirtschaftsdemokratie und „tatsächliches“ Volkseigentum einzuführen.
Gewiss, die Reformen scheiterten schon bei der Einführung – an ideologischen Vorbehalten („Rückkehr zum Kapitalismus“) und SED-internen Ängsten vor Machtverlust. Und schließlich auch am Widerstand der Sowjetunion. Mit Breschnew hatten zentralistische Hardliner und Parteifürsten nach der kurzen Tauwetterperiode von Chrustschow wieder die Macht übernommen. Kurz vor dem berüchtigten 11. Plenum der SED (16. bis 18.12.1965) zieht der scheiternde Apel diese Art von Konsequenz.
Ein anderes Mitglied der Apel-Gruppe geht einen angepassten Weg: Der junge Günter Mittag, später Verwalter der „schleichenden Insolvenz“ der DDR. In einem Spiegel-Interview 1991 bekennt er, dass die DDR mit der Niederlage der Apel-Gruppe ökonomisch gescheitert war. Doch er selbst spielte das verlorene Spiel noch 25 Jahre mit, weil er seinen errungenen, hohen Posten wohl nicht aufgegeben wollte. Lebenszeit genießen, in einem historischen Prozess, den er sowieso nicht ändern konnte.
Mit Apels Selbstmord 1965 war die DDR und die Vision vom „wirklichen Volkseigentum“ jenseits von Staatszentralismus und Ein-Parteien-Herrschaft historisch gesehen schon gestorben. Der „Prager Frühling“ 1968 nur noch ein trauriges Nachspiel. Die Karten für den Untergang des Alternativ-Versuches „Sozialismus“ waren gelegt, eben weil die Frage des „wirklichen Volkseigentums“ ungeklärt blieb. Es brauchte noch 24 Jahre bis das System endgültig zerbrach.
Doch nun zur eigentlichen Frage: Wie steht es heute mit der Vision vom „wirklichen Volkseigentum“? Ist sie tatsächlich ein Irrtum der Geschichte? Oder war der Staatsozialismus des 20. Jahrhunderts nur ein gewaltsam-verirrter Formversuch, es herzustellen? Sind wir dem „wirklichen Volkseigentum“ vielleicht viel näher als wir glauben? Schließen sich „Volkseigentum“ und „soziale Marktwirtschaft“ wirklich aus? Oder hat sich das „Volkseigentum“ möglicherweise schon längst schleichend eingenistet – in vielfältigsten Formen und Benennungen – und bewegt sich zaghaft, aber unaufhörlich auf einen qualitativen Sprung zu? Und was meint „wirkliches Volkseigentum“ eigentlich? Und was meint es, irrtümlich angenommen, eben nicht?
Flüstert uns die Vergangenheit hier Zeichen und Signale ins taube Ohr, die ein anderes Gesellschaftsprojekt erkennbar machen könnten – als das gegenwärtig herrschende („neoliberale“) Projekt, das sich – nunmehr reformiert – politisch erneut durchgesetzt hat?