Das ist das Fatale am Tourismus: Hier kommt nicht die eingekaufte Ware zum Konsumenten, sondern der Konsument zur Ware. Und das Besondere an dieser Ware ist, sie ist nur einmal da und sie ist immobil. Der Konsument aber ist mobil und in seiner Zahl schier unzählig. Hier fließt er wie ein unerschöpflicher Ameisenstrom durch die Lagunen-Altstadt Venedig (20 Millionen pro Jahr, 60.000 pro Tag). Er umsäumt die steinerne Haut eines versunkenen Zeitalters, worin alte Gewerke und ihre Imitationen als Einkommensarbeit für Touristen überleben, sich ansiedeln und ausweiten: Vermieter, Fremdenführer, Gasthaus-Betreiber, Gondoliere mit Sänger- und Musiker-Anhang, Palastkostümball-Veranstalter mit exklusivem Kostümverleih, gigantomanische Kreuzschiff-Unternehmungen, erlesene Kunst-Galerien, schrille Modegeschäfte… oder Superreiche aus aller Welt, die ihr Geld in Immobilien anlegen und selbst vor Ort kaum erscheinen.
Wem gehört die Stadt?
Der Film setzt bei einer fast zu übersehenden Perspektive an: Die Einwohner dieses Stadtteils, die verschwinden. Ein tragisches Personal. Eine ehemaliger Gondoliere, ein einheimischer Haus- und Wohnungsmakler, eine touristische Vermieterin, ein Bootslastenfahrer, eine Fremdenführerin. Alle tragisch verwoben: Sie leb(t)en vom Tourismus und zugleich entgleitet ihnen ihre Stadt als Wohn- und Lebensort jenseits ihrer Arbeit.
Und das ist dann auch das Thema hier: Die Enteignung der Lagunenstadt durch die Kapitalisierung ihrer Details und historischen Dimensionen. Die Bürger wandern aus aufs Festland und / oder überleben in den Nischen, teilhabend am Umsatz der Tourismus-Industrie, deren Mit-Funktionäre sie sind. Für mich ergreifend und ernüchternd zugleich vom Regisseur Andreas Pichler begleitet und beobachtet. Wem gehört die Stadt? Dem anonymen, subjektlos gewordenen Kapital, in dessen Hamsterrad von Unternehmens-, Zins- und Lohn-Erzeugung wir uns eintakten: In eben unsere eigenen Doppel- oder vereinseitigten Rollen als Unternehmensgewinn-, Lohn-, Miet-, Grundrenten oder Zinsempfänger?
Die Altstadt abgestellt fürs monetäre Gemeinwohl – von den Bürgern selbst?
Doch die Lagunen-Altstadt Venedig – weiß ich – ist nur ein Stadtteil der Großstadt Venedig. Ich frage mich: Hat die Gesamtstadt ihre Lagunen-Teilstadt selbst zur touristischen Ware, zur Arbeitsplatz- und Steuereinnahmen-Maschinerie im Auftrag aller abgestellt? Nun, dies würde vermutlich gelten, wenn man unterstellt, dass die Bürgerschaft einer Stadt letztlich der Souverän über das Stadtgebiet ist, das sie besiedelt. Jedoch: Sind Stadtparlament und Stadtverwaltung – bei aller Verselbständigung – nicht vom Bürgerwillen gewählt und bedienstet? Haben die Bürger wirklich nicht die Hoheit, den welt-touristischen Konsumenten zu steuern?
Die Frage reduziert sich, scheint mir: Wer ist der Souverän über das Stadtgebiet? Spätestens an dieser Stelle verlässt mich Ergriffenheit und Mitgefühl. Wenn sich die Bürger nicht gegenseitig überzeugen können, dann wird die Lagunen-Altstadt wohl bald ein kuriose, venezianische Disneyrepublik. Oder von einem anderen Standpunkt ausgedrückt: Wir sehen nichts anders als die Folgen ihrer eigenen Entscheidungen. Pichler hat einen Horror-Film gemacht – über uns selbst, die wir festhalten an einer selbstgewählten Art, wie Gesellschaft funktionieren soll.