Somalia liegt am Golf von Aden und an der Arabischen See. ‚Zirkulationsfunktionäre’ (Reeder) schicken ihre Schiffe durch diese Wasserwege. Sie haben Lohnarbeiter angeheuert (Matrosen, Seeoffiziere und einen Kapitän), die das geladene Warenkapital (die heute übliche Form von Arbeitsprodukten) zu seinem Konsumenten bringen sollen, wo es sich durch Verkauf in Geld rückverwandelt – zu mehr Geld als in ihre Produktion hinein gesteckt wurde. Doch verweilen wir an der Küste von Somalia: Was passiert da? Neue ökonomische ‚Figuren’ tauchen dort auf, die auf Schnellbooten heraneilen – Piraten – die sich dreier Dinge bemächtigen: Des Warenkapitals (des ‚Gewinnspeichers’); des Schiffes (einer ‚Zirkulationskost’ des Reeders) und nebenbei – der Lohnarbeiter.
Der Pirat als ‚Zwischenhändler’ – das Lösegeld als ‚Preisaufschlag’
Das Nebenbei erscheint hier als Hauptsache, die Geiselnahme der Lohnarbeiter, die vom ökonomischen Standpunkt des Reeders aus auch nichts weiter sind – als ‚Zirkulationskost’. Die Piraten verlangen ‚Lösegeld’ und drohen, eines der drei Elemente zu vernichten. Sie wählen hierbei die Lohnarbeiter. Vom Standpunkt des Reeders erhöhen sich nunmehr die Zirkulationskosten durch den ‚Lösegeld’-Aufschlag. Piraten sind somit streng genommen zusätzliche ‚Zirkulationsagenten’ (Zwischenhändler), die aus der Preis-Perspektive die Warenzirkulation verteuern. – Jedoch hier, und nun sind wir beim Film, schweigt der Reeder. Viele Wochen schweigt er. Die Regierungen der Herkunftsländer des Warenkapitals haben längst Militärkontingente geschickt (von Steuergeld-finanzierten Erwerbsarbeits-Soldaten, die wiederum Abgesandte sind von Steuergeld-finanzierten Vermittlern – Politiker – genannt), um diese Wege frei zu halten von diesen ökonomischen Räubern…
Der Kapitän des in Geiselhaft genommenen Schiffes entwickelt ein persönliches Verhältnis zum Anführer der Piraten (dem neuen Zwischenhändler und Störenfried), um den schweigenden Zwischenhändler ‚Reeder‘ zum Handeln zu bewegen. Es gelingt mit einem Hilferuf und sehr bewegenden Fotos von vier deutschen Geiseln, die mediale Aufmerksamkeit zu erlangen (erzeugt durch Medienarbeiter, die angestellt wurden zur Produktion von verkaufbaren Nachrichtenwaren). Dies wiederum löst schließlich die befreiende Handlung aus: Die deutsche Regierung zahlt eine Lösegeldsumme von (wie es heißt) 2,6 Millionen Euro. Die spezifische Erwerbsarbeit des Piraten hat Erfolg: Die Mannschaft wird frei gelassen. Sie erhalten das Geld, die zusätzliche Zirkulationskost wird gezahlt, zunächst mit Steuergeldern. (Wie viel Geld die deutsche Regierung vom Reeder zurückfordert ist unbekannt.) Das Warenkapital kann seinen Weg zum Bestimmungs- und Verwandlungsort fortsetzen.
Jenseits ökonomischer Charaktermasken
Jedoch, als alles vorbei ist, tritt ein Konflikt innerhalb der Mannschaft zutage: Der 1. Offizier (ein ehemaliger Bundeswehroffizier) kritisiert den (polnischen) Kapitän, er verurteilt dessen vermittelnde Aktion. Der Kapitän wird entlassen. Weil er das Leben der Leute über die Funktion des loyalen Lohnarbeiters stellte? Weil er keinen Toten „abwarten“ wollte? Weil ihm dieser Tote sinnlos erschien als Beweis der Unnachgiebigkeit der Piraten, monetären Anteil am Zirkulationsgeschäft des Warenkapitals zu beanspruchen? Wie auch immer, der Film enthüllt etwas Verblüffendes: Dem ökonomischen Binnenverhältnis auf dem Schiff entsprang ein moralischer Wert – „der respektvolle Umgang miteinander“ – jenseits der hier verteilten, ökonomischen Charaktermasken. Dieser moralische Wert hatte die (unbewussten) ökonomischen Frontlinien durchkreuzt. So zeigt der Film den „verbrecherischen“ Pirat einerseits als Erwerbsarbeiter und Teilfunktionär eines eigenen ökonomischen Apparats, andererseits als einen Träger des moralischen Wertes „Respekt“. Z.B. als er von einem Mannschaftsmitglied des Schiffes Achtung vor dem eigenen Kapitän verlangt. Z.B. als er sich beim Kapitän entschuldigt, weil er diesem irrtümlich Verrat an einer getroffenen Abmachung unterstellte und ihn dafür erschießen wollte…
Die Erschießung einer Person als ökonomische Handlung
Was für ein bizarres Bild von ökonomischen Verwerfungen! Der Reichtum der ersten Welt zieht auf Containerschiffen in Schnellbootnähe am ärmsten Teil der Welt vorbei. Was für ein Aufwand, um an Einkommen heranzukommen – auch um teilzuhaben am gigantischen Reichtum unserer Welt. Was für Bilder – vom Piratendorf, von der „Etappe“ des Erwerbsarbeiters „Pirat“, der nach der „Schicht“ ins Inland fährt, zu seiner Familie oder in den Puff. (Die Verteilung der Lösegeld-Summe unter den „Lohnarbeitern“ und anonymen „Arbeitgebern“ muss unsichtbar bleiben.) Und in allem überlebt ein moralischer Wert – ein Rest „Respekt“ des Menschen vor dem Menschen! Die Erschießung einer Geisel „nur“ eine ökonomische Handlung ist, die mit der Achtung vor der Person, die erschossen wird, einhergehen kann… usw. usf. Kurz: Die Ökonomie als Aneignungssystem von Einkommen also die fürchterlichsten und grausamsten Paradoxien erzeugen kann… Und der Dokumentarfilm deckt sie auf und riskiert selbst den Kragen seines Teams, weil er sich ins Zentrum des Geschehens begibt (hier v.a. durch den in Somalia fast allein agierenden Kameramann Yusuf Guul) – und das alles so genau wie möglich anschaut! Die dokumentarische Nähe zum Ereignis hergestellt zu haben, ist die eigentliche grandiose Leistung des Regisseurs Andy Wolff. Den Rest besorgen wir Zuschauer selbst, indem wir das Dokument in unsere Kontexte setzen, die uns möglich sind durch unsere eigenen Perspektiven.
Dank!