Das Wunder des amerikanischen Spielfilms „Wunder“ (2017) liegt hier nicht so sehr in der Story begraben oder in einer Figur, die „Wundersames“ bewältigt, obgleich dies für die Rechtfertigung des Filmtitels durchaus ausreichen würde. Es geht darüber hinaus.
Die Story: Den durch einen Gen-Defekt im Gesicht entstellten Fünftklässler August „Auggie“ gelingt der angstbesetzte Wechsel vom Home Schooling in eine „richtige“ Schule. Es gelingt ihm erfolgreich dem erwarteten Schul-Mobbing zu entkommen, das freilich zunächst eintritt, gewissermaßen einem sozialen „Naturgesetz“ folgend, wenngleich sich alle abmühen, es nicht zuzulassen (aber man weiß ja, wie grausam Kinder untereinander und gegeneinander sein können). Dem naturwissenschaftlich hochbegabten Auggie gelingt es seine depressive Resignation abzuwerfen, als ewiger nicht anerkennenswürdiger Außenseiter gelten zu müssen. Kurzum: Durch die Erlebnisse erzählerisch clever organisierter Enttäuschungen hindurch, gelingt hier ein Paradebeispiel an gelungener Integration (neusprech: „Inklusion„). Aber das scheint mir hier eben nicht das eigentliche Wunder zu sein.
Das eigentliche Wunder verbirgt sich in der Meta-Ebene der Story, in der Form des Erzählens. Es verbirgt sich in einer didaktischen, ja „politischen“ Geste der Macher gegenüber dem Zuschauer und den Figuren. Diese Geste macht die Rezeptur des Wunders aus.
Diese Geste beruht im Wesentlichen auf den eingewobenen Perspektiv-Wechseln weg von Auggie hin zu den beteiligten Mobbing-Akteuren. Die überraschenden Perspektiv-Wechsel decken auf, was Kinder zu Mobbing-Verhaltensstrategien greifen lässt und welche Urquellen des Phänomens „Mobbing“ sich meist dahinter verbergen, nämlich unbewältigte (das Mobbing auslösende) Konflikte der Eltern.
Kurz umrissen sind das:
Auggies Schwester Olivia muss durch ihre Eltern Isabel (Julia Roberts) und Nate (Owen Wilson) eine gewisse Zurücksetzung ihrer Person zugunsten ihres Bruders Auggie erdulden.
Auggies erster Schulfreund Jack biedert sich aufgrund seines geringen sozialen Status‘ dem „fiesen“ Mitschüler Justin an und verrät Auggie zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt.
Olivias Freundin Miranda bricht aus Scham gegenüber der zerrütteten Paarbeziehung ihrer Eltern, den für Olivia und Auggie so wichtigen Kontakt ab.
Was vom Zuschauer zunächst als Mobbing-Verhalten „kodiert“ wird, was ihn erregt, aufwühlt und als höchst enttäuschend-ungerecht empfunden wird, dies zerstört der Perspektiv-Wechsel umgehend. Der Zuschauer muss durch die neuen Informationen des Perspektiv-Wechsels gewissermaßen seine Wahrnehmung korrigieren und „umkodieren“. Eine Art Code-Switching vollziehen. „Einfacher“ gesagt, es findet im Erzählfluss eine empathische Relativierung der Mobbing-Verhaltens für den Zuschauer UND für die Figuren statt. Dies ermöglicht im Finale das Wunder der Konflikt-Auflösung und der gegenseitigen Wertschätzung „abweichenden“ (dramatischen) Verhaltens und ihrer Akteure. Der Film wird zur Lehrstunde der verblüffenden, wundersamen Wirkung von Perspektiven-Wechsel.