Beim Studium des 3. Bandes von Marx‘ „Kapital“ vor einigen Jahren erzeugt eine merkwürdige Lektüre-Erfahrung (Kapital III/S.822-839). Doch zunächst muss ich etwas ausholen.
Die Gemeinsamkeit aller Gesellschaftsformen
Marx scheint von einer grundlegenden Abstraktion auszugehen: Die Arbeit aller bisheriger historischer Gesellschaftsformen lässt sich stets unterscheiden in ’notwendige Arbeit‘ und in ‚Mehrarbeit‘. Die ’notwendige Arbeit‘ zeigte sich nun in den Produkten, die eine Gesellschaft benötigt, um ein gegebenes gesellschaftliches Bedürfnis zu erfüllen. Die ‚Mehrarbeit‘ hingegen erscheint in jenen Produkten (als ‚Mehrprodukt‘ bezeichnet), die über das gegebene gesellschaftliche Bedürfnis hinausgehen. Nehmen wir dieses gedankliche Unterscheidungsspiel zunächst zur Kenntnis.
Die historischen Gestalten von ’notwendiger Arbeit‘ und ‚Mehrarbeit‘
Gehen wir weiter. Marx argumentiert nun: Die bisherigen vor-kapitalistischen Gesellschaftsformen stellen eigentlich nur verschiedene historische Gestalten dar, wie die ’notwendige Arbeit‘ und die ‚Mehrarbeit‘ sowie ihr ‚gesellschaftliches Gesamtprodukt‘ durch die beteiligten Akteure produziert und angeeignet wird.
Auch die Kapitalform ist diesbezüglich eine besondere historische Gestalt. Hier treten sich Arbeitskraft und Arbeitsbedingungen vollständig getrennt gegenüber – und zwar als frei handelbare Waren. Der Kapitaleigentümer kauft sich die sachlichen Arbeitsbedingungen und die Arbeitskraft, führt sie zusammen. Eine Produktmasse entsteht, die er für mehr Geld verkauft als er ihre Elemente eingekauft hat. Der Arbeitskrafteigentümer hingegen verkauft sein Arbeitsvermögen und vermietet es zeitlich befristet an den Kapitaleigentümer, wofür er einen Arbeitslohn erhält. So weit so gut.
Sichtbare und unsichtbare Quelle des Mehrprodukts
Doch nun ein weiterer, entscheidender Unterschied: In den vor-kapitalistischen Gesellschaftsformen sei ziemlich ersichtlich gewesen, woraus speziell das Produkt der ‚Mehrarbeit‘ (= Mehrprodukt) entsprang. Aus der lebendigen Arbeit selbst und ihren direkten Zwangs- und Herrschaftsverhältnissen.
In der Sklavenarbeit wird der ‚unmittelbare Produzent‘ (der Sklave) selbst zum Produktionsinstrument des Sklavenbesitzers. Sein Arbeitsprodukt wird ihm durch seinen Herrn direkt entzogen. Für seine Arbeit erhält er die notwendigen Lebensmittel, die sein Arbeitsvermögen mehr oder weniger erhalten. Alle anderen Anteile des Arbeitsprodukts eignet sich der Besitzer der Sklaven an (sprich: die für diesen selbst notwendigen Produkte und das Mehrprodukt).
Bei der Fronarbeit arbeitet der Fronarbeiter ein bestimmtes Zeitquantum für sich selbst (auf seinem Feld) und eine weiteres Zeitquantum auf dem Feld des Fronherrn. Auch er ist durch ein unmittelbares, sinnlich erlebbares Herrschaftsverhältnis (nämlich zum Fronherrn) zur Arbeit für andere gezwungen. Die eigene Arbeit wird ihm teilweise fremde Arbeit. Er zahlt sie fort in Form der ‚Arbeitsrente‘. Später wird die räumliche Trennung der Felder aufgehoben, und der Fronarbeiter muss den Fronherrn in Form von Produkten bezahlen (als ‚Produktenrente‘). Die Spaltung der eigenen Arbeit als ‚Arbeit für sich selbst‘ und als ‚Arbeit für andere‘ verwischt sich hier also. Stattdessen wird ihm nun jener Teil des Produktes fremd, den er weggeben muss.
Kurz gesagt: Für den unmittelbaren Produzenten (als Sklave, als Fronarbeiter) ist der Unterschied zwischen ‚eigener Arbeit‘ und ‚Arbeit für andere‘ sinnlich quälend spürbar – als ein offenes Zwangsverhältnis gegenüber klar erkennbaren Personen.
Anders in der Kapitalform!