Marx und „Downeast“

Grit Lemke schreibt in ihrem Katalogtext zu ‚Downeast’ (von David Redman und Ashley Sabin): „In bester amerikanischer Erzähltradition entwickeln sie eine packende, in der ehrliches Unternehmertum („business is personal“) im Verein mit den Arbeitnehmern antritt gegen ein gesichtsloses Finanzkapital. Dabei geht es nicht nur um Existenzen und sehr viel Geld, sondern vor allem um Würde. Downeast ist überall.“

Vom ökonomischen Standpunkt beschreibt der Film eine paradoxe Situation: Eigentlich müsste der kapital-investierende Lobster-Unternehmer Antonio Bussone gemeinsam mit seiner ihm Kapital leihenden Hausbank die geschaffenen Arbeitsplätze profit-orientiert „ausbeuten“ (= Aneignung von unbezahlter Arbeit). Seine profitable vorgestellte Geschäftsidee besteht darin, Lobster von Fischern zu kaufen, sie durch gemietete Arbeitnehmer zu verarbeiten und zu konservieren und dann gewinnbringend zu verkaufen. Hinterher sollte also mehr Geld rauskommen als er und die Bank gemeinsam rein gesteckt haben. Zwei Kapital-Subjekte stehen hier auf der Bühne (ein Unternehmer und seine Bank), die den Profit einer Geschäftsidee sich aneignen und dann aufteilen müssten – als Unternehmergewinn und Zins. Eigentlich ziehen sie an einem Strick, doch die Fronten geraten hier durcheinander: Das eine Kapitalsubjekt (der Unternehmer) fühlt sich selbst seinen Arbeitskräften (alten Damen und Männern der Kleinstadt) mehr verbunden, während das andere eigentlich „partnerschaftliche“ Kapital-Subjekt (die Hausbank von Antonio) als Feind erscheint – für den Unternehmer Antonio, weil es kein weiteres Kapital leihen will und für die Arbeitnehmer, weil es die Arbeitsplätze bedroht.

Trotz hoher Nachfrage des Produkts (der Ware), verschwinden im Schlund des anonymen Bank-Apparats die Gründe, weshalb sich hier zwei eigentlich Verbündete verfeinden. Aus der ökonomischen Charaktermaske des Kapital-Unternehmers Antonio Bussone tritt plötzlich ein menschliches Drama hervor, während das andere Kapital-Subjekt ‚de-personalisert‘ und anonym erscheint, nur ihre angestellten Funktionäre kann man am Telefonhörer hören…

Stoße im 36. Kapitel/3. Bd. des „Kapitals“ auf eine interessante Figuren-Beschreibung, die mich sehr an Antonio Bussone erinnert. Marx schreibt auf der Seite 614: „Selbst wo ein vermögensloser Mann als Industrieller oder Kaufmann Kredit erhält, geschieht es in dem Vertrauen, daß er als Kapitalist fungieren, unbezahlte Arbeit aneignen wird mit dem geliehenen Kapital. Es wird ihm Kredit gegeben als potentiellem Kapitalisten. Und dieser Umstand, der so sehr bewundert wird von den ökonomischen Apologeten, daß ein Mann ohne Vermögen, aber mit Energie, Solidität, Fähigkeit und Geschäftskenntnis sich in dieser Weise in einen Kapitalisten verwandeln kann – wie denn überhaupt in der kapitalistischen Produktionsweise der Handelswert eines jeden mehr oder weniger richtig abgeschätzt wird -, so sehr er beständig gegenüber den vorhandnen einzelnen Kapitalisten eine unwillkommene Reihe neuer Glücksritter ins Feld führt, befestigt die Herrschaft des Kapitals selbst, erweitert ihre Basis und erlaubt ihr, sich mit stets neuen Kräften aus der gesellschaftlichen Unterlage zu rekrutieren. Ganz wie der Umstand, daß die katholische Kirche im Mittelalter ihre Hierarchie ohne Ansehn von Stand, Geburt, Vermögen aus den besten Köpfen im Volk bildete, ein Hauptbefestigungsmittel der Pfaffenherrschaft und der Unterdrückung der Laien war. Je mehr eine herrschende Klasse fähig ist, die bedeutendsten Männer der beherrschten Klassen in sich aufzunehmen, desto solider und gefährlicher ist ihre Herrschaft.“ – Es ist der Tellerwäscher-Millionär-Mythos, dem Marx hier in die Eingeweide schaut.

‚Downeast’ wirkt plötzlich wie eine aktuelle Illustration von Marx (23. Kapitel/3. Band ‚Kapital‘). Und Bonitzer würde dann ergänzen: Hier liegt die (dokumentarische) Verkörperung einer Idee vor, welche als Problem dargestellt ist. Man muss beim Dokumentarfilme-Machen vielleicht gar nicht soviel nachdenken, es geschieht einfach, durch Anwesenheit bei den Leuten selbst. Die Dramaturgen klären hinterher alles auf.