Lektüre Bernhard Schlink: „Reise in den Süden“

„Der Tag, an dem sie aufhörte ihre Kinder zu lieben, war nicht anders als andere Tage. Eine alte Frau wendet sich an ihrem Geburtstag genervt von ihren Kindern (4 Stück) und Enkeln (13 Stück) ab. Was den Anlass gibt ist ein Zeitungsfoto, auf dem sie ihren Ex-Ehemann Helmut mit seiner neuen Frau und ihren Kindern+Enkeln entdeckt – anlässlich seines Geburtstages. Das tut weh, da sie das eigene Leben „pflichtgemäß“ geführt hatte, den Bedürfnissen anderer untergeordnet. „Liebe ist keine Sache des Gefühls, sondern des Willens,“ hatte sie von der Mutter gelernt. Sinn, der plötzlich verdampft angesichts der Erkenntnis eines nicht richtig gelebten Lebens? Ärger, der sich verhärtet in Bitterkeit. Unmut gegenüber den lebensroutinierten Kindern, dem glücklichen Ex-Ehemann.

Da folgt sie einem Impuls und reist, begleitet von einer Enkelin, die von der Familie zu Dauerbetreuung abgestellt und bezahlt wird, in die Stadt ihrer Jugend, wo sie einst von ihrer großen Liebe verlassen wurde. Die Enttäuschung ihres Lebens. Dank der Enkelin findet sie den damaligen Geliebten – einen einarmigen Mann, Adalbert. Damals ein wunderbarer Tänzer, Philosophie-Student. („Ich bin sicher, dass er dich ebenso geliebt hat wie du ihn. Kennst du den Spruch: ‚Now, if not forever, is sometimes better than never‘?“) Adalbert lebt nun als Witwer, seine etwas autistische Tochter in den USA. „Ich habe mal darüber geschrieben, dass die großen Lebensentscheidungen nicht richtig oder falsch sind, dass man nur verschiedene Leben lebt. Nein, ich denke nicht dass dein Leben schief gelaufen ist.“

Doch es kommt noch dicker. Nicht er hatte sie verlassen, sondern sie ihn. Sie hatte es verdrängt, wie es „wirklich“ war. Und so kommt zurück, was damals geschah: „Ich hatte Angst vor dem Leben mit Adalbert, vor der Armut, in der er aufgewachsen war und die ihm nichts ausmachte, vor seinen Gedanken, die ich nicht verstand, vor dem Bruch mit meinen Eltern. Helmut war meine Welt, und ich bin in meine Welt geflüchtet.“ Und weiter: „Als ich in meiner alten Welt und mit Helmut nicht glücklich wurde, habe ich Adalbert nicht verziehen, dass er meine Ängste nicht gesehen und mir nicht geholfen, mich nicht gehalten hat. Ich habe mich von ihm verlassen gefühlt, und die Erinnerung hat alles in die Szene gefasst, als er auf dem Bahnsteig Abschied genommen hat.“

Was für eine große Verkennung! Ein Umschreiben von Geschehen in eine erträglichere Wahrheit. Die Enttäuschung über ihre Ehe mit Helmut, die nun auch noch aufgeladen wurde mit der Enttäuschung über Adalbert. Frachtverkehr. Unkenntlich, was man selbst eigentlich wollte. Und unkenntlich die eigene Angst, der man sich nicht gestellt hat. Eine klassische Geschichte vom Bedürfnis abgewandtem Lebens.